Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat der Witwe eines Asbest-Opfers Recht gegeben. Ihr und den zwei Töchtern sei in der Schweiz mit Verweis auf die Verjährungsfrist ein fairer Prozess verweigert worden (Urteile 52067/10 und 41072/11).
Der Verstorbene hatte zwischen 1965 und 1978 beruflich Kontakt mit Asbest. Im Mai 2004 wurde bei ihm Krebs diagnostiziert, eineinhalb Jahre später starb er. Fünf Tage nach dem Tod ihres Mannes reichte die Witwe eine Genugtuungsforderung ein. Die Schweizer Unfallversicherung (Suva) habe ihre Schutzpflicht gegenüber ihrem Mann verletzt. Ebenso wie der ehemalige Arbeitgeber müsse die Suva solidarisch für dessen Tod haften. Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau und im Jahr 2010 auch das Bundesgericht (BGE 136 II 187 und 137 III 16) wiesen die Forderung der Frau zurück.
Das Bundesgericht machte geltend, dass das Verantwortlichkeitsgesetz des Bundes eine Frist von höchstens zehn Jahren vorsieht (vgl. u.a. BGE 136 II 187, E. 8.3). Die Frau hätte ihre Forderung also 1988 deponieren müssen – 16 Jahre, bevor der Krebs bei ihrem Mann diagnostiziert wurde.
Aus der Sicht des EGMR ist dies eine unmöglich zu erfüllende Anforderung, die die Klägerin um die Möglichkeit gebracht habe, ihren Anspruch geltend zu machen. Mit diesem System wären sämtliche Ansprüche von Asbest-Opfern, die mit der Substanz bis zu deren Verbot in der Schweiz im Jahr 1989 in Berührung kamen, gemäss Schweizer Recht verjährt, hält der EGMR fest.
Wenn wissenschaftlich bewiesen sei, dass eine Person nicht wissen könne, dass sie an einer bestimmten Krankheit leide, müsse dies bei der Bemessung der Verjährungsfrist berücksichtigt werden, hält der EGMR fest. Eine strikte Auslegung der Fristen verletzt nach Meinung des EGMR den Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), in dem das Recht auf ein faires Verfahren (fair-trial) festgehalten ist. Das Recht auf ein faires Verfahren ist eine justizmäßige Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips.
Der EGMR verpflichtet die Schweiz deshalb zu einer Genugtuungszahlung von 12’180 Euro an die Witwe sowie die zwei Töchter. Zudem muss sich die Schweiz mit 9’000 Euro an deren Unkosten beteiligen.
Im November 2013 leitete der Bundesrat eine Botschaft für eine Revision der Verjährungsfrist ans Parlament weiter. Die absolute Verjährungsfrist soll für Personenschäden auf 30 Jahre verlängert werden. Zu den Personenschäden zählen auch Asbest-Schäden.