06.09.2014

BGer 9C_850/2013: Arztzeugnisse sind nicht mehr verbindlich

Im vorliegenden Bundesgerichtsentscheid (vgl. auch Tagesanzeiger vom 31. Juli 2014) ging es um einen Antrag auf Invalidenrente einer Frau. Die zuständige IV-Stelle – im vorliegenden Fall die Beschwerdeführerin – hat zur Abklärung ein polydisziplinäres medizinisches Gutachten der Medizinischen Abklärungsstelle (MEDAS) eingeholt. Laut diesem Gutachten diagnostizierten die Experten eine rezidivierende depressive Störung mit beginnender Chronifizierung. Dazu nannten sie akzentuierte Persönlichkeitszüge, ein generalisiertes Schmerzsyndrom mit vielen vegetativen Begleitbeschwerden und eine anhaltende somatische Schmerzstörung (vgl. E.2). Als Resultat wurde eine 40%-ige Arbeitsunfähigkeit attestiert. Die Beschwerdeführerin hat daraufhin den Antrag auf IV-Leistungen mangels einer individualisierenden Beeinträchtigung abgelehnt. 

Die dagegen erhobene Beschwerde der Frau wurde hingegen gutgeheißen. Als Begründung hat das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen ausgeführt, dass es dem Willen des Gesetzgebers widerspreche, wenn eine gutachterlich bescheinigte Arbeitsunfähigkeit – welche auf einer klinisch festgestellten Depression beruhe – als invalidenversicherungsrechtlich irrelevant erklärt werde, bloss weil gleichzeitig ein unklares syndromales Leiden vorliege (vgl. E.2.1). Schliesslich gehe es um eine rezidivierende depressive Störung. Ob sich diese aus der anhaltenden Schmerzstörung oder von ihr unabhängig entwickelt habe, oder die unklare Schmerzstörung sogar eine Folge der Depression sei, sei völlig irrelevant. Maßgeblich sei nur, dass eine depressive Störung vorliege, welche die Leistungsfähigkeit bei der Erwerbstätigkeit beeinträchtige und diese durch eine zumutbare Willensanstrengung nicht oder nur in geringem Ausmaß überwunden werden könne (E. 2.2). 

Die Beschwerdeführerin hingegen rügte u.a. dass es Sache der Rechtsprechung sei, die invalidisierenden Auswirkungen von psychiatrischen Diagnosen unter Berücksichtigung sämtlicher relevanter Faktoren festzulegen und nötigenfalls von der Einschätzung des Gutachtens abzuweichen. Im betreffenden MEDAS Gutachten werde ausgeführt, das Hauptsymptom sei eine diffuse Schmerzproblematik, aus der sich allmählich die Depressionen entwickelt hätten (E. 2.3). 

Die Bundesrichter führten aus, dass es nicht Sache des sich mit dem konkreten Einzelfall befassenden Arztes sei, selber abschließend und für das Gericht verbindlich zu entscheiden, ob ein medizinisch festgestelltes Leiden zu einer Arbeitsunfähigkeit führe oder nicht. Drei Gründe sprächen dagegen (E. 3.1):

1. Arbeitsunfähigkeit sei ein unbestimmter Rechtsbegriff (Art. 6 ATSG), dessen allgemeine Konkretisierung dem Bundesgericht zufalle, während seine praktische Handhabung im Einzelfall der rechtsanwendenden Stelle obliege.

2. Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung (Art. 61 lit. c ATSG) verlange eine umfassende, inhaltsbezogene, verantwortliche und der behördlichen Begründungspflicht genügende Prüfung aller Beweismittel, somit auch des Sachverständigengutachtens.

3. Die Natur der Sache gebietet unter dem Gesichtswinkel eines rechtsgleichen Gesetzesvollzugs (Art. 8 Abs. 1 und Art. 29 Abs. 1 BV) eine administrative bzw. gerichtliche Überprüfung der ärztlichen Stellungnahme zur Arbeitsfähigkeit auf ihre beweisrechtlich erforderliche Schlüssigkeit im Einzelfall hin. Denn zwischen Diagnose und Arbeitsunfähigkeit bestehe keine Korrelation, weil die medizinische Folgenabschätzung eine hohe Variabilität aufweise und Ermessenszüge trage.

Weiter sei es Aufgabe des Mediziners, den Gesundheitszustand zu beurteilen und dessen Entwicklung zu beschreiben, d.h. Befunde zu erheben und gestützt darauf eine Diagnose zu erstellen. Was die Folgenabschätzung der gesundheitlichen Beeinträchtigung betrifft, habe die Arztperson aber keine abschliessende Beurteilungskompetenz. Diese gebe eine Schätzung ab, welche eine wichtige Grundlage für die juristische Beurteilung der Frage darstellt, welche Arbeitsleistung der Person noch zugemutet werden könne. Nötigenfalls seien, in Ergänzung der medizinischen Unterlagen, für die Ermittlung des erwerblich nutzbaren Leistungsvermögens die Fachpersonen der beruflichen Integration und Berufsberatung einzuschalten (E. 3.2).

Dass die Vorinstanz gestützt auf das MEDAS Gutachten ohne weiteres eine Arbeitsunfähigkeit von 40% angenommen habe, halte den Ausführungen in E. 3.1 und 3.2 nicht stand, weshalb das Bundesgericht an die entsprechenden Tatsachenfeststellungen nicht gebunden sei und, da es sich um einen rechtlichen Mangel handelt, den entscheidwesentlichen Sachverhalt ausnahmsweise selber feststelle.

Schließlich kam das Bundesgericht zu Schluss, dass u.a. eine konsequente Depressionstherapie fehle, deren Scheitern das Leiden als resistent ausweisen würde. Die Beschwerde der IV-Stelle wurde damit gutgeheissen.

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Maira Gall