01.09.2015

BGer 6B_188/2015: Einsprachelegitimation des Privatklägers im Strafbefehlsverfahren

Die Strafprozessordnung sieht nicht explizit vor, dass ein Privatkläger zur Einsprache gegen einen Strafbefehl legitimiert ist. So erwähnt Art. 354 Abs. 1 StPO zwar explizit die beschuldigte Person (lit. a) als legitimiert, die Privatklägerschaft müsste hingegen unter die Generalklausel von lit. b („weitere Betroffene“) subsumiert werden, möchte man ihr dieselben Rechte zugestehen. Bislang stellte sich das Bundesgericht auf den Standpunkt, dass der Privatkläger legimitiert sei (und somit zu den „weiteren Betroffenen“ im Sinne von lit. b zählt), wenn er ein rechtlich geschütztes Interesse an der Aufhebung oder Änderung des Strafbefehls habe (BGE 138 IV 241, Erw. 2.6) oder wenn ihm keine Parteientschädigung zugesprochen werde (BGE 139 IV 102, Erw. 5.2).

Wie es sich aber verhält, wenn der Privatkläger sich in erster Linie gegen die rechtliche Qualifikation des Sachverhalts wehrt, musste das Bundesgericht im Entscheid vom 30. Juni 2015 (6B_188/2015) erstmals klären. Der Privatkläger war mit dem Schuldspruch der Tätlichkeit nicht einverstanden, er sprach sich für eine versuchte einfache Körperverletzung aus. Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass ein Privatkläger trotz der Tatsache, dass ein Strafbefehl nie einen Freispruch enthält und darin auch nie über Zivilforderungen entschieden wird, ein rechtlich geschütztes Interesse an der Aufhebung oder Änderung haben kann. Die Begründung ist ziemlich pragmatisch: Würde man anders entscheiden, würde man die Stellung des Privatklägers im Strafbefehlsverfahren von derjenigen im ordentlichen Verfahren benachteiligen, denn letzterer ist ohne weiteres zum Rechtsmittel legitimiert (Erw. 2.6). Die Beschwerde wurde gutgeheissen und zur erneuten Beurteilung an die Vorinstanz zurückgewiesen.

Andreas Dudli
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Maira Gall