16.07.2013

Formeller Charakter des Replikrechts – Unterscheidung im Gerichts- bzw. Verwaltungsverfahren

Das Replikrecht ist die Erwiderung des Klägers im Zivilprozess auf die Klageerwiderung des Beklagten. Übertragen auf das Verwaltungsverfahren ist dies die Erwiderung eines Einsprechers/Beschwerdeführers auf die Stellungnahme eines Gesuchstellers oder einer Behörde. 

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und das Bundesgericht (BGer) konkretisierten mit ihrer Rechtsprechung das Replikrecht, nicht jedoch die Prozessgesetze (Art. 31 VWVG gilt in der heutigen Fassung als veraltet). Der EGMR setzte in der Vergangenheit einen sehr strengen Massstab, das BGer hat gestützt darauf mehrfach seine Praxis angepasst bzw. verschärft. 

In seiner Rechtsprechung hält das BGer folgendes fest (BGE 133 I 42, BGE 133 I 100 und BGE 137 I 195): 

Nach ständiger Rechtsprechung des EGMR umfasst das Recht auf ein faires Verfahren gemäss Art. 6 Ziff. 1 EMRK das Recht der Parteien, von jedem Aktenstück und jeder dem Gericht eingereichten Stellungnahme Kenntnis zu nehmen und sich dazu äussern zu können, sofern sie dies für erforderlich halten. Unerheblich ist nach der Rechtsprechung des EGMR, ob eine Eingabe neue Tatsachen oder Argumente enthält und ob sie das Gericht tatsächlich zu beeinflussen vermag. Die betroffene Partei muss sich im Verfahren zu der entsprechenden Notwendigkeit aus ihrer Sicht äussern können, ansonsten ist das Prinzip der Waffengleichheit verletzt, das Bestandteil des Rechts auf ein faires Gerichtsverfahren ist (fair trial). 

Diese Anforderungen werden missachtet, wenn das Gericht eine Vernehmlassung zwar zustellt, aber einen Antrag auf Replik mit Zwischenverfügung abweist. Die Konventionsbestimmung wird auch dann verletzt, wenn das Gericht bei der Zustellung einer Vernehmlassung an die beschwerdeführende Partei zum Ausdruck bringt, der Schriftenwechsel sei geschlossen; damit wird dem Beschwerdeführer die Möglichkeit zur Stellungnahme abgeschnitten. 

Unterscheidung Gerichtsverfahren / Verwaltungsverfahren: 

Freilich ergibt sich aus dem verfassungsmässigen Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 Bundesverfassung) in den Verfahren vor Verwaltungs- und Gerichtsbehörden, mithin allen Arten von Verfahren, die durch individuell-konkrete Anordnung abzuschliessen sind, das Recht, sich zu Eingaben von Vorinstanz oder Gegenpartei ("Vernehmlassung", "Stellungnahme" und dergleichen) zu äussern, soweit die darin vorgebrachten Noven prozessual zulässig und materiell geeignet sind, den Entscheid zu beeinflussen. 

Von diesem Replikrecht i.e.S. zu unterscheiden ist in den Gerichtsverfahren, die Art. 6 Ziff. 1 EMRK unterliegen, die vom EGMR entwickelte Möglichkeit, zu jeder Eingabe von Vorinstanz oder Gegenpartei Stellung zu nehmen, und zwar unabhängig davon, ob diese neue und erhebliche Gesichtspunkte enthalten. Die Praxis des Bundesgerichts hat dieses Recht auf Gerichtsverfahren ausserhalb des Anwendungsbereichs von Art. 6 Ziff. 1 EMRK ausgedehnt. 

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Maira Gall