08.05.2014

Die Nichtanwendbarkeit der Rückzugsfiktion von Art. 355 Abs. 2 StPO im internationalen Verhältnis

Ein slowakischer Lastwagenfahrer wurde wegen Führens eines nicht betriebssicheren Fahrzeugs zu einer Busse verurteilt. Gegen den Strafbefehl erhob er Einsprache, worauf ihn die Staatsanwalt in die Schweiz zur Einvernahme vorlud. Da der Beschuldigte nicht erschien, sah die Staatsanwaltschaft die Einsprache aufgrund von Art. 355 Abs. 2 StPO als zurückgezogen. Der Beschuldigte wehrte sich dagegen; er hatte von Anfang an eine rechtshilfeweise Einvernahme in seinem Heimatstaat ersucht.

Das Bundesgericht, welches die Angelegenheit schliesslich zu beurteilen hatte, hält in seinem Entscheid vom 27. März 2014 (1B_377/2013) fest, dass Beschuldigte, die sich im Ausland aufhalten, nicht verpflichtet seien, einer Vorladung Folge zu leisten. Begründet wurde es mit dem völkerrechtlichen Grundsatz, dass sich die Staatsgewalt auf das hiesige Staatsgebiet beschränke. Die Schweiz lasse dies im Übrigen im umgekehrten Fall gemäss Art. 69 IRSG ebenso wenig zu. Eine Vorladung, die ins Ausland verschickt werde, stelle in der Sache somit eine Einladung dar, die freiwillig sei. Aus demselben Grund komme auch die Rückzugsfiktion nicht zum Zuge.

Das Bundesgericht kommt auch mit folgender Eventualbegründung zum selben Ergebnis: ein konkludenter Rückzug der Einsprache könne nur angenommen werden, wenn sich aus dem gesamten Verhalten des Beschuldigten der Schluss aufdränge, dass er bewusst auf den Rechtsschutz verzichte. Dies könne vorliegend mit einem auf deutsch zugestellten Strafbefehl mit dem Hinweis auf Art. 355 Abs. 2 StPO nicht angenommen werden. Ausserdem zeige die Einsprache gerade, dass der Beschuldigte nicht einverstanden war.

Anmerkung des Autors: der Beschuldigte war im Vorverfahren nicht anwaltlich vertreten. Er verfasste die Einsprache selbst, der Zustellungsort der Post war die Slowakei. Das Bundesgericht hielt im aufgeführten Entscheid im Zusammenhang mit der Zustellung der Vorladung fest, dass ein Zwang (zur Folgeleistung) nur angedroht werden dürfe, wenn der Beschuldigte sich freiwillig in die Schweiz begebe UND ihm die Vorladung auch in der Schweiz zugestellt werden könne. Von zweitem ist bekanntlich immer auszugehen, wenn der Beschuldigte anwaltlich vertreten ist. Der Autor ist der Auffassung, dass das "und" als kumulativ zu verstehen ist und der Zustellungsort in der Schweiz alleine nicht ausreichen würde, dass von der Wirkung des Zwangs einer Vorladung (bzw. von der Rückzugsfiktion von Art. 355 Abs. 2 StPO) ausgegangen werden muss.

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Maira Gall